Portrait

Sterben mit 30, Portrait vcn Mustafa Darwish (2010)

Søren Engel ist Bildhauer und Musiker. Holz und Rock bilden für ihn die Substanz der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. Dabei geht es um den Tod und sein jetziges Wirken. Ein Gespräch auf St. Pauli und Besuche auf einem Konzert sowie im Atelier des Künstlers geben Aufschluss über den Menschen Engel. Von Engels Schicksal und den Widrigkeiten, einen Weg zur Kunst zu finden.  

Es ist einer der ersten milden Märzabende in Hamburg. Wir treffen uns in der Nähe von Engels Wohnung auf St. Pauli an einem Kiosk. Nach einer kurzen Begrüßung und dem Kauf von Zigaretten, Bier und Limonade geht es zum Park Fiction, ein Park, der Elbe, Docks und das Treiben an den Landungsbrücken aus einer terrassierten Lage überblickt. Vor allen Dingen ist der kleine Park, ein Platz mit ungewöhnlich wellenförmig eingefassten Rasenflächen, ein Platz, der heute Abend von ganz unterschiedlichen Menschen aufgesucht wird: Obdachlose, Anwohner des Viertels, Jugendliche die unter den Kunstpalmen ihr Kioskbier trinken. Engel hat den Platz als Gesprächskulisse ausgewählt. Vielleicht auch wegen der Wellenform. Engels Weg war und ist keine gerade Linie sondern eher krumm und voll schicksalhafter Wendungen. Sein ganzes Erscheinen wirkt schlicht, eher zurückhaltend. Weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick erfüllt er den Stereotypen eines egozentrischen oder extrovertierten städtischen Künstlers, im Gegenteil. Auf die Frage hin, welche entscheidenden Momente ihn zur Bildhauerei gebracht haben, versinkt er für einen Moment in Gedanken. Er sucht nach einer Ordnung in seiner eigenen Biographie und begibt sich in die Kindheit.

Verrückte Erfindungen

Engel, 1979 geboren, entwirft und zeichnet bereits im Alter von vier Jahren Konstruktionen von Flugmaschinen, Renn- und Amphibienfahrzeugen. Als er schreiben lernt, dokumentiert er die Funktionen in den Zeichnungen. Der Gedanke Ingenieur zu werden kommt ihm dabei nicht. „Sie waren ja frei von technischer Logik, verrückte Erfindungen“, betont Engel. Schließlich verliert er das Interesse an Konstruktionsplänen. Er zeichnet Landschaften und wendet sich der Architektur zu. Jedes Stück Papier muss bemalt werden, und wenn es Taxiquittungen sind. Die Freude am Zeichnen beendet ein Kunstlehrer im Overall. Engel, mittlerweile 13 Jahre alt, weigert sich, vorgegebene Fluchtpunkperspektiven einzuhalten. Das hat Konsequenzen. Der Kunstlehrer bescheinigt seine Eigenwilligkeit mit einer schlechten Note im Zeugnis. „Eine Fünf in Kunst geht eigentlich nicht“, sagt Engel mit fassungslosem Lachen. Die Folgen sind für ihn gravierend. Er hört auf zu zeichnen und flüchtet in die Musik.

Zeig mir mal deine Hände!

„Alter, das sind noch nicht mal Bassfinger!“, urteilt der neue Gitarrenlehrer. Die kleinen dicken Hände scheinen nicht für das Saiteninstrument geschaffen zu sein. Sein Interesse für Heavy Metal lässt nur noch ein weiteres Instrument zu, das Schlagzeug. Für Engel sind es schwierige Zeiten. Dass er Heavy- und Dark-Metal hört und spielt, ist auch Ausdruck seines seelischen Zustandes. Es ist eine Mischung aus Hass, Aggressionen und der frühen Beschäftigung mit dem Tod. Der Tod als ständiger Begleiter kommt nicht freiwillig in sein Leben. Engel leidet als Kind unter starkem Übergewicht. Eine Untersuchung im Krankenhaus soll Klarheit bringen, warum das so ist.

Der zuständige Arzt zeigt wenig Empathie, als er dem 13-Jährigen verkündet, dass er unter einer Fettstoffwechselkrankheit leidet. Seine Lebenserwartung läge wohl nicht höher als 30 Jahre. Von nun an tickt eine Uhr in seinem Kopf. Eine Uhr, die noch auf 17 Jahre Dauer eingestellt ist. Trotzdem versucht er, sein Leben so normal wie möglich zu führen und beginnt ein paar Jahre nach dem vorzeitigen Abgang vom Gymnasium eine Tischler-Lehre.

Es dauert drei Wochen, dann weiß Engel, dass er nie als Handwerker arbeiten wird. Er vermisst die Ganzheitlichkeit im Tun. Es ist eine Zeit des stupiden Anschneidens von Leisten. Fließbandarbeit, die Gedanken nach Zusammenhängen nicht zulassen. Seine Frage an Gesellen und Meister, welchen Sinn seine Tätigkeit hat, wird mit einem: “Das ist halt so!“ beantwortet. Es ist nicht der Moment sich zu beschweren sondern zu funktionieren. Die schwer zu ertragende Tatsache, mit einer sehr begrenzten Lebensdauer wie eine bewusstlose Maschine zu arbeiten, akzeptiert Engel nicht. Unter dem Motto „Der Junge hat etwas gelernt, dann ist alles in Ordnung“ schließt er zwar die Lehre ab, wechselt jedoch zügig auf die Schule für Grafik und Farbe in Hamburg, um sein Fachabitur zu machen. Der erneute Schulbesuch führt ihn zurück zu seinen eigentlichen Neigungen. Er zeichnet wieder, beschäftigt sich mit Farbenlehre und Architektur. Es wächst die Idee, Industrie-Designer zu werden. Nach dem Schulabschluss bewirbt sich Engel fast zwei Jahre lang bundesweit bei den Fakultäten, wird aber nirgendwo aufgenommen. Er scheitert meist an den Kolloquien, den mündlichen Aufnahmeprüfungen. „…weil ich mich nicht so verkaufen konnte, wie die anderen Bewerber. Die sagten einfach, ich bin eine coole Sau und will hier studieren und das habe ich nicht getan.“

Sein größter Wunsch, an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel zu studieren, wird auch nach dem dritten Bewerbungsversuch nicht erfüllt. Ein Mitglied der Kieler Prüfungskommission, der die plastischen Arbeiten Engels in der letzten Aufnahmeprüfung bewertet hat, kommt nach der Absage auf ihn zu. „Es gibt hier so viele Arbeiten, die werfe ich in die Tonne, aber Deine stelle ich ins Regal. Warum lässt Du Dich nicht zum Bildhauer ausbilden?“ Engel möchte in diesem Moment nichts davon wissen. Er hat Scheuklappen auf, will Industrie-Designer werden. Es dauert eine Weile bis in ihm, nach all den Absagen, die Erkenntnis reift. Engel, mittlerweile 21 Jahre, überwindet sich und schreibt Kurzbewerbungen an 36 Bildhauer. Drei von ihnen willigen ein ihn auszubilden. Er entscheidet sich für Erich Gerer, einen Künstler aus Harburg, der mit Holz arbeitet. Engel lernt anderthalb Jahre von Gerer, bevor er seinen eigenen Weg einschlägt.

Strahlender Mörder

Nach dem letzten Gespräch auf St. Pauli und dem ersten Bier mit ihm sind ein paar Wochen vergangen.
Der Kaiserkeller in Hamburg. Der Bildhauer tritt als Frontmann der Band „Stynt“ auf.

Es ist schummrig und dunkel. Es riecht nach Bier und Rauch, der seit Dekaden in den Wänden des alten Clubs hängt. Engel läuft quer durch den Raum, begrüßt stürmisch Freunde und Bekannte, die für den ersten großen Auftritt der Band „Stynt“ in den Kaiserkeller gepilgert sind. Ehrliche Nervosität und Vorfreude auf sein eigenes Konzert sind ihm anzusehen. Vor allem freut er sich über die große Bühne „Endlich kann ich auch mal einen Ausfallschritt machen, ohne gleich im Lautsprecher zu stehen!“ Die Ruhe des Künstlers ist gewichen. Immer wieder schiebt er seine Baseball-Kappe in den Nacken und wieder zurück auf die Stirn.

Wenn er Sätze beendet, dann fallen sie knapp aus. Heute ist kein Abend der langen Konversationen. Fast erleichtert verabschiedet er sich in die Hinterbühne, wo die Band die letzten Minuten bis zum Konzertbeginn herunter zählt. Um 22:00 Uhr steht er endlich vor dem Publikum. Nach einer kurzen Huldigung der italienischen Vorband und ein paar nette Worte an die sichtlich gutgelaunten Besucher, dreht er auf. Der Start des Konzerts ist eine Erleichterung, der erste Song zum Warmwerden. Die Band spielt Rock mit melodischen Brüchen, die zugleich den schnellen Takt hin und wieder entschleunigen. Engel mustert das Publikum und probiert Bewegungen aus. Er versinkt förmlich in seinen Texten, schüttelt den Kopf, schreit. In den vorderen Reihen wird Pogo getanzt. Für das Publikum steht die Musik im Mittelpunkt, für Engel der Text. Ein Lied handelt von der Diagnose des Arztes, er werde nicht älter als 30 Jahre. Es trägt den Namen „Strahlender Mörder“. Fast selbsttherapierend schreit er den Text in den dunklen Raum. Ein Lied, mit dem er die schicksalhafte, traumatische Begegnung mit dem Arzt verarbeitet. Seine Ansagen zwischen den Liedern beschränken sich nur noch auf den Titel des nächsten Stücks. Er schaut mit halboffenen Augen zu Boden und singt seine Lieder.

Am Ende des Konzerts erwacht Engel wieder aus seiner Musik und sucht Kontakt zum Publikum. Nach einer Zugabe verlässt die Band sichtlich erleichtert die Bühne. Dem Auftritt folgt eine lange Partynacht.

Das Innere

Das Konzert im Kaiserkeller ist zwei Tage her und Engel hat sich in sein Atelier zurückgezogen. Die Rapsfelder lassen vergessen, dass Hummelsbüttel noch ein Stadtteil von Hamburg ist. Es riecht nach Frühling, gemähten Rasen und Bauernhof. Inmitten von Landwirtschaft und Einfamilienhaus-Idylle befindet sich sein Atelier. Es liegt versteckt hinter einem Hof mit Basketballnetz, Kleinwagen und Dreirad.

Hohe Decken, weiß gekalkte Wände, sonnendurchflutete Räume und viel Platz sucht man vergeblich. Das Atelier ist ein ehemaliges Gewächshaus. Die Dachkonstruktion aus Glas ist verwittert und bricht die Sonnenstrahlen nach eigenen Regeln in das kleine Gebäude. Der Raum ist erfüllt mit Staubpartikeln, die in einem milchig gelben Lichtkegel umher tanzen. Hinter dem Gewächshaus schließt sich ein Wildgarten an. Dort steht Engel. Umringt von Vogelgezwitscher zerrt er an einer halb verrotteten Plane. Sie war einmal das Dach seines „Außenateliers“ und ist in kurzer Zeit den norddeutschen Witterungsverhältnissen zum Opfer gefallen.

Er zuckt leicht zusammen, als er seinen Besuch wahrnimmt. Dem kurzen Schreck folgt ein Lächeln: „Moin, da muss eine neue Plane her!“ sagt er und klappt die Kapuze seines schwarzen Pullis herunter, auf dem das Logo seiner Band „Stynt“ prangt. Das Konzert im Kaiserkeller ist für die Band ein voller Erfolg gewesen, der nicht zu knapp begossen wurde. Um acht Uhr morgens sei die Band von der Polizei aus einem anderen Hamburger Club „evakuiert“ worden, weil es irgendwo gebrannt hat. Die frische Luft und Ruhe verhelfen wieder zur Klarheit „Es ist Zeit, heute mal ein bisschen „Tabula rasa“ zum machen. Reinigung von Kopf, Seele und Atelier ist absolut notwendig für neue Werke!“

Über der Tür zum Atelier hängt ein einfaches Holzschild mit seinem Namen. Zuvor baumelte dort ein weit auffälligeres Schild aus Plastik mit Internetpräsenz und Telefon-Nummer, das aber zu sehr an ein Immobilienmakler-Schild erinnerte und kaufwillige Spaziergänger anzog. Im Atelier pressen sich große Holz-Skulpturen, eine alte Holzwerkbank, ein Ofen sowie jede Menge Stecheisen und Schnitzmesser aneinander. Über alldem wacht eine kleine angemalte Holzschildkröte. „Diese kleine Schildkröte soll mich immer daran erinnern, was ich nicht will“, sagt er mit fester Stimme, während er sich nachdenklich eine Zigarette mit extradünnem Papier dreht.

Kunstverbraucher

Engel arbeitete mit einer Landschaftsarchitektin zusammen. Sie war gerade dabei, einen neuen Kinderspielplatz zu planen. Er sollte für dieses Projekt eine Riesenschildkröte und ein paar spielende Kinder aus Holz entwerfen. Seine Idee war ein kleines Mädchen im Schneidersitz, das mit zugehaltenen Augen für ein Versteckspiel abzählte. Das Urteil der Landschaftsarchitektin war niederschmetternd: „Wenn Du der Figur noch ein Kafka-Buch in den Schoß legst, bringt sich irgendwann der ganze Spielplatz um!“ Die Schildkröte hätte sie genommen, aber farbig. Halbherzig strich Engel das Schildkröten-Modell an und kam währenddessen zu der Erkenntnis, dass er für ein „Schildkröten-Projekt“ unter diesen Umständen nicht geschaffen war. Auch seine Skulpturen haben in den letzten Jahren eine Entwicklung durchgemacht. „Am Anfang habe ich organisch gearbeitet, weil ich nicht soviel von mir preisgeben wollte.“ Zuerst ließ er sich vom Holz führen, beschäftigte sich mit den Formen des Werkstoffes und dessen Auflösung. Heute bevorzugt er ebene Holzblöcke, die er nach seiner Fasson formt. Wie die Holzschildkröte über sein Atelier wacht, tut dies eine Holzmaske über seinen Garten. „Esoterisch angehauchte Besucher sind öfters mal überzeugt, dass diese Maske böse Geister vertreibt.“ Dabei hat Engel die Maske einfach aus Spaß ohne tieferen Sinn oder Hintergrund kreiert. Seit fünf Jahren hängt sie nun über der wilden Wiese und guckt grimmig. Das ist ihr auch nicht zu verdenken: Viele Vögel nutzen das gute Stück als Toilette mit Aussicht.

Eine Holz-Skulptur in der Werkstatt fällt besonders auf, schon aufgrund ihrer Höhe von über zwei Metern. Engel bezeichnet sie als „Das Innere“. Er hat sein Seelenleben in sie gearbeitet. Das Holz windet sich, zunächst auseinander, dann wieder zusammen. Die Skulptur lässt Freiraum für Interpretationen. Aber man muss Engel nicht kennen um auch herauszulesen, dass dieses „Innere“ ausbrechen, sich befreien möchte, um schließlich wieder zu sich selbst zu finden.
Nicht jedem Kunstverbraucher verkauft er seine Werke. Einen gut situierten Interessenten musste er wieder nach Hause schicken. „So ein hektischer, weltmännischer Typ hielt mit einer Vollbremsung vor meinem Atelier.“ Der Mann stieg aus seinem Geländewagen mit einem Handy am Ohr. Er hatte bei seinen Nachbarn im Wintergarten eine von Engel gefertigte Skulptur gesehen. Nun wollte er auch eine, nur größer und aufwendiger. „Der Typ hatte kein Interesse, wer ich bin noch was ich tue. Er vermittelte mir innerhalb von 20 Sekunden, dass es ihm ausschließlich um den Status geht. Es gab bei ihm nichts emotionales, nichts was ich gefühlt habe.“
Engel gab zu verstehen, dass er nichts Größeres, Inhaltsloses für ihn schaffen werde und bat den Interessenten, in seinen großen Wagen zu klettern und möglichst langsam und unauffällig fortzufahren.

Leben mit 33

Engel, der in Kaltenkirchen geboren wurde und in Hamburg aufwuchs, ist 33 Jahre alt und lebt noch immer. Laut der Aussage des Arztes aus seiner Kindheit müsste er schon tot sein. Die diagnostizierte Fettstoffwechselkrankheit erwies sich als Fehldiagnose. Geblieben ist ein Künstler, der gerne mal ein Pils trinkt und für den sich der Weg im Moment sehr gut anfühlt. Betrachtet man das eine oder andere Kunstwerk von ihm, so kann man diesen Weg darin entdecken.